Das goldene Schlangenarmband

1.

Stanislav Zander öffnete die Augen und entdeckte über sich ein Stückchen des nächtlichen Himmelszeltes. „Wo bin ich?“, dachte er verwundert. Er richtete sich auf, stieß mit dem Kopf an irgendetwas Hartem und ließ sich wieder nach hinten fallen. „Wie bin ich bloß hierhergekommen?“
Sein Durst war unerträglich, sein Rachen brannte wie Feuer, und ihn fröstelte.
Er richtete sich erneut auf, diesmal wesentlich vorsichtiger, und kroch auf allen Vieren unter einer hölzernen Brücke hervor. Über dem Himmelsrand schwebte der Vollmond. Er sah sich um. Auf der einen Seite schwärzte seinen Blick ein Fichtenwald, auf der anderen erstreckten sich bepflanzte Felder. Irgendwo in der Nähe des Waldrandes rauschte ein Fluss.
„Dass ich das noch erleben muss, wie ein räudiger Köter unter einer Brücke zu schlafen!“
Den Nachmittag zuvor hatte er im Streit mit seiner Frau das Haus verlassen und traurig bei seinem Freund Andreas vorbeigeschaut. Von seinem Problem erzählte er nichts, denn Andreas war nicht allein, und seine Frau Veronika mochte Stanislav nicht besonders gerne. Danach hatte er sich ins nächstbeste Restaurant begeben und ein Gläschen Wodka bestellt, dann noch eins, und am Ende des Abends hatte er mit einer lauten Gesellschaft hier ansässiger Deutscher gesessen und eine Runde nach der anderen geschmissen. Gegen Mitternacht saß Stanislav dann im Wagen einer fremden Blondine. Worüber er sich mit ihr unterhalten hatte und wie er unter die Brücke geraten war, hatte er vollkommen vergessen.
Nachdem er sich umgeschaut hatte, überprüfte Zander seine Hosen- und Jackentaschen. Sein Pass und seine Wohnungsschlüssel waren zum Glück noch da. Von den zweihundert Euro, die er bei sich gehabt hatte, war nur noch eine Handvoll Münzen übrig. Sein Gürtel und das daran befestigte Handy fehlten. Er suchte im Gras nach den verlorenen Gegenständen, doch er fand weder seinen Gürtel noch das Handy. Schließlich folgte er dem Weg zum Fluss und löschte mit dem kühlen Nass ausgiebig seinen Durst. Als er sich wieder besser fühlte, überlegte Stanislav, was er als Nächstes tun sollte. Nach Hause zurückkehren wollte er nicht, denn dort war Marina, seine Frau, die er mehr als alles geliebt hatte. Doch jetzt, wo er wusste, dass sie ihn betrog, würde er nie mehr zu ihr zurückkehren. Außerdem brauchte sie ihn nicht. Sie hatte sogar freudig gelächelt, als er fortging, fast schon zufrieden... „Mein Gott, wie soll ich nur weiterleben?!“
Plötzlich vernahm Zander den heiseren, unterdrückten Schrei einer Frau. Er schaute sich um. Und wieder schallte dieser wie von Todesfurcht erfüllte Schrei vom Wald herüber. Der junge Mann durchquerte den Fluss und rannte los. Nach hundert Metern blieb er stehen und lauschte. Nun aber blieb es still.
„Wo sind Sie?! Ich will Ihnen helfen!“, schrie Stanislav und bog die dornigen Äste beiseite, drei Schritte voranschreitend. Dann rief er noch einmal nach der Frau. Plötzlich fielen ganz in seiner Nähe zwei Schüsse.
„Oha!“, fuhr es Stanislav durch den Kopf. „Bewaffnete Kriminelle!“
Er sank auf allen Vieren und robbte geräuschlos vorwärts. Der Wald wurde immer dichter. Bald befand er sich auf einer Lichtung. Vorsichtig blickte er um sich. Um ihn herum war niemand auszumachen; nur der Wind rauschte in den Fichtenspitzen.
„Ich muss sofort die Polizei rufen“, entschied Zander. Er erhob sich und rannte, so schnell, wie es ihm die Bäume erlaubten, zum Fluss zurück, trank atemlos einen weiteren Schluck Wasser. Auf einmal heulte im Fichtenwald ein Automotor auf.
„Sie flüchten!“, schoss es Zander durch den Kopf. „Was, wenn sie hierher kommen?!“
Der junge Mann stürmte Richtung Straße und rannte eine ganze Weile zwischen Felder hindurch. Nachdem er ein Birkenwäldchen durchquert hatte, erreichte er schließlich eine Bundesstraße. Plötzlich erhellten zwei grelle Scheinwerfer die Dunkelheit. Wie von Sinnen ruderte er am Straßenrand mit den Armen. Ein bulliger Jeep schoss an ihm vorbei. Stanislav rannte weiter.
Die Minuten verflogen, doch kein Auto war weit und breit zu sehen. Erst als es dämmerte und die ersten, gelblichen Strahlen scheu die Welt erleuchteten, erwachte die Straße zu neuem Leben, und schon rollten die ersten schweren Lastwagen und wendige Kleinwagen vorbei. Er winkte den Fahrern zu, doch keiner hielt an. Als er schließlich eine beschilderte Kreuzung erreichte, hielt eine grauhaarige ältere Frau ihren kleinen Peugeot an.
„Rufen Sie die Polizei!“, bat Zander sie unverzüglich. „Lassen Sie die Polizei hierherkommen. Ich habe im Wald Schüsse und Schreie gehört... Ich glaube,  jemand wurde ermordet. Bitte, rufen Sie die Polizei!“

 

Auszug aus dem Buch „Das goldene Schlangenarmband"

(„Das Fluidum des Abgrundes")

© Heinrich (Gennady) Dick